Vor einiger Zeit fand ich auf einem Marktstand zwei Ansichtskarten: ein Soldat auf Urlaub (deshalb sehr erfreut und zufrieden…), der sich fotografieren lässt, um seinen Angehörigen und Freunden ein Erinnerungsfoto zu schicken. Beim ersten Bild hat der Fotograf, wohl um die Gestalt abzumildern, einen Strauß Blumen in künstlichem Rot hinzugefügt. Auf dem zweiten Bild sind die Blumen immer noch da, aber sie sind verwelkt und liegen leblos auf einer Bank. Wie durch Zauber weiß geworden. Das Ergebnis ist surreal, und wenn es sich nicht so offensichtlich um eine Inszenierung handelte, könnte man auf phantastische Auslegungen und versteckte subliminale Botschaften kommen. Dieses doppelte Bild führt uns symbolisch zum Sinn der Kunst des Transkribierens. Auf dieser CD habe ich, was ich im Übrigen schon früher gemacht habe, mir Musikstücke angeeignet, die für andere Instrumente geschrieben wurden, um apokryphe Versionen von ihnen (manchmal mit Lizenz) zu besorgen und sie dann dem Komponisten zu einem endgültigen Urteil vorzulegen. Hotel Boltanski ist ein Ort der Seele, ein kleines Museum der Wunderdinge, meine Wunderkammer. Experiment und Pop, Freiheit und Strenge, Ordnung und Unordnung, Erinnerung und Zukunft, Zahlen und Wolken leben hier zusammen. In ihren Zimmern wohnen befreundete Komponisten, Leute, denen ich nie begegnet bin, Weggenossen und Schutzgötter. Es ist ein ehrlicher und leidenschaftlicher Tribut an einen großen Künstler, der viele Jahre lang mein Schaffen begleitet hat, mit Büchern, Ansichtskarten, Katalogen, Fotografien, Ausstellungen: Christian Boltanski. Das nütze ich aus, um eine Liste zu erstellen, wie sie vielleicht meinem geliebten Georges Perec gefallen hätte, in der ich ohne eine vorbestimmte Form alle Experimente wie Zinnsoldaten aufgereiht habe, die im Lauf der Jahre nach einer freien, nicht vorgefassten Ordnung aufeinander gefolgt sind. Jetzt aber bringt sie diese Liste miteinander in Verbindung und die Sache nimmt verschiedene und geheimnisvolle Bedeutungen an. Ich merke, dass ich ganze Hefte vollgeschrieben habe mit Namen von Komponisten und Musikstücken, Spieldauer der einzelnen Stücke, Kompositions- und Geburtsdaten.Â
Listen, Namen, Zahlen, Listen und dann wieder Zahlen, Zahlen, Zahlen…
Manuel Zurria
Rom, 6. September 2016
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